Viele Menschen durchschauen Entscheidungsprozesse in Politik und Wirtschaft nicht mehr. Wer vertritt eigentlich wen, wer sagt was und vor allem warum, warum bleibt immer jemand auf der Strecke und warum ist das alles so verdammt unfair. Wie kommt es zu einer Entscheidung, wie bilden sich Lobbygruppen, welche Mittel werden eingesetzt um sich durchzusetzen? Warum agieren Parteien stets als Klientelvertreter, wo wir doch die Schnauze voll von der Klientelpolitik haben. Es muss ja möglich sein, nach dem Motto „Politik mit Hausverstand“, Lösungen zu finden. Denke ich auch.

Baumscheibe oder Parkplatz? In meiner Gasse wurden die AnrainerInnen zur Befragung gebeten. Die Frage war relativ simpel: Sollen bestehende Parkplätze sogenannten Baumscheiben weichen. Effekt: Weniger Parkplätze, dafür alles etwas grüner. Man muss dazu sagen, dass es ab 19:30 bereits jetzt unmöglich ist einen Parkplatz in Wohnungsnähe zu finden. Und jetzt DAS! Die Befragung endete mit einem Sieg der Baumscheibenbefürworter.

Natürlich wurde auch in unserer Nachbarschaft intensivst darüber diskutiert. Und die Positionen waren großteils bestimmt von den eigenen Bedürfnissen. AutofahrerInnen waren empört und das über alle Parteigrenzen hinweg. Einer meiner Nachbarn, ein durch und durch Grüner, fand Worte die ich nicht wiedergeben kann. Ein älteres Ehepaar hingegen sah schon vor dem geistigen Auge ihre einst graue Gasse ergrünen und wünschten sich Rosskastanienbäume, weil die so schön blühen.

Die Fronten waren also klar: Auf der einen Seite die Gruppe der Parkplatz-Fans. „Wo soll ich parken? Ich kann mir eine Parkgarage nicht leisten? Wo soll das enden?“. Auf der anderen Seite die Jünger der Baumscheibe: „Endlich weniger Autos, mehr Grünflächen, Gasse wird ansehnlicher“.

Jetzt nehmen wir mal an: die SPÖ oder Grüne vertreten die Baumscheiben-Jungs und Mädls und VP/FP/BZÖ die Parkplatz-Fetischisten. Obwohl die Trennlinien in dieser Sachfrage quer durch die Parteien geht. Aber nehmen wir das mal an.

Jeder vertritt also seine Klientel. Und jeder für sich hat recht. Am Ende setzt sich der Stärkere durch und es passiert das, was der Stärkere will. Im Falle der Politik heisst „der Stärkere“ eben „die Mehrheit“ im jeweiligen Entscheidungsgremium.

Man versteht den Autofahrer. Und man versteht ja auch die/denjenigen der mehr Bäume ursuper findet. Ein Ausgleich ist schwer möglich. Und: er wird auch gar nicht versucht.

Dieses kleine Beispiel kann man problemlos auf die „großen“ Fragen der Politik anwenden. Pensionsreform, Gesundheitssystem, Verwaltungsreform. Jeder vertritt seine Klientel. Niemand versucht den Weg zu gehen, den man als „fair“, „im Interesse aller“ oder „vernünftig“ qualifizieren könnte.

Was uns zur Frage bringt: Ist es objektiv feststellbar was gerecht, gut und richtig ist? Wenn wir uns jetzt der Frage des Kleinvölkerkrieges Baumscheibe gegen Parkplatz zuwenden. Was wäre eine faire Lösung, was im Interesse des „Gemeinwohls“? Was wäre eine Lösung mit Hausverstand? Wie lassen sich zwei derartige Gegenpositionen in einer Art und Weise miteinander vereinen, dass am Ende kein fauler Kompromiss herauskommt, sondern was G’scheites?

Die klassischen Lösungen in Österreich schauen ungefähr so aus: Die Anzahl der vorgeschlagenen Baumscheiben wird halbiert. Oder: mit dem Bau der Baumscheiben wird erst 2019 begonnen. Oder: man will die Baumscheiben bauen, aber einigt sich darauf, dass die budgetären Mittel dafür angesichts klammer Kassen nicht vorhanden sind. Oder man zieht sich auf den Status Quo zurück und lobt diesen.

Aber angenommen, man würde die Frage wirklich so lösen wollen, dass die Bedürfnisse zumindest einer Mehrheit (aller wird schwierig bzw. schlichtweg unmöglich) befriedigt würde. Wie würde man sich dieser Sache nähern? NÄHERN bzw. annähern ist das Entscheidende. Es gibt keinen Idealzustand in einer Gesellschaft. Es wird nie eine gerechte Gesellschaft geben. Man kann sich dem Ideal nur annähern. Wenn man will.

Also: zuallererst müsste man versuchen bei beiden Gruppen Verständnis für die jeweilige Gegenposition zu finden. So zum Beispiel:

Hey, Autofahrer, wir verstehen Euch. Aber würde Euch eine schönere, grünere Gasse nicht auch besser gefallen? Versteht Ihr nicht die Wünsche der Eltern, die ihre Kinder gerne in einer begrünten Wohnstraße aufwachsen sehen würden?

Hey, Baumscheibingers, wir verstehen Euch. Wenn jemand 1200 brutto verdient und sich keinen Garagenplatz leisten und seinen Arbeitsplatz mit Öffis nicht erreichen kann, ist das für denjenigen oder diejenige ein Problem.

Im klassisch-österreichischen Prozedere würde das anders laufen. Die Autofahrer würden die Baumscheibingers polemisch anschütten und die Baumscheibingers die Autofahrer auch. Wer erinnert sich denn z.B. nicht an „Hängt die Grünen solange es noch Bäume gibt“ bzw. „Erst wenn der letzte Baum gefällt ist, werdet ihr erkennen, dass man Geld nicht essen kann“.

Um Verständnis werben also. Egal wie absurd einem eine Gegenposition auch erscheinen mag. Man sollte einfach versuchen diese zu verstehen. Einfach zuhören. Und sacken lassen.

Passiert das in der großen Politik? Versucht ein ÖBB-Gewerkschafter zu verstehen, dass es eine Mehrheit einfach ungerecht findet, dass dieser viel früher als die meisten in Pension gehen kann? Umgekehrt: versuchen wir den ÖBB-ler zu verstehen der sich dieses Privileg nicht nehmen lassen will, weil es ihm nun mal so versprochen wurde? Versucht ein Bauernbündler zu verstehen, dass es eine Mehrheit nicht verstehen kann, dass es in vielen Bereichen der Förderpolitik bzw. Besteuerung von Einkommen aus landwirtschaftlicher Tätigkeit Dinge gibt, die einfach so nicht ok sind. Versucht wiederum ein Kritiker dieser Zustände zu überlegen, wie diese Dinge entstanden sind, warum sie aus der Sicht des Bauernbündlers ein zu verteidigendes Gut darstellen? Versuchen die jeweiligen Kontrahenten den Gegenstandpunkt zu verstehen? Nein, oder?

Schauplatzwechsel. Nun verstehen also die Baumscheibingers und die Parkplatzingers zu einem Stück weit die Gegenposition. Und denken sich: Naja, ich hab zwar subjektiv noch immer recht, aber sooooooo unrecht hat der andere auch nicht. Man beginnt sich in den anderen hineinzuversetzen und schafft dadurch einen Anfang. Man beginnt Vertrauen aufzubauen. Wenn man in einer lösungsorientierten Diskussion annimmt, dass auch die Gegenseite echt an einer konsensualen Lösung arbeiten will, dann hört sich das typisch taktische Verhandlungsprozedere auf.

Man kommt vom „Geb ich Dir, gibst Du mir, gibst Du mir nicht, geb ich Dir nicht“ weg und versucht ein „Was wäre denn für alle ok“.

Und so kommen die Baumscheibingers und Parkplatzingers auf total gute Ideen: man sollte die Anbindung an den öffentlichen Verkehr verbessern und so die Abhängigkeit vom Auto als Fortbewegungsmittel reduzieren; man könnte z.B. die Intervallzeiten der naheliegenden Buslinie überdenken; es könnte Gratis-Parkanlagen geben, die man in 25 Minuten mit den Öffis erreichen kann; man könnte den Kauf von E-Rollern subventionieren; man könnte ja in der Nachbarschaft Fahrgemeinschaften andenken und zu dem Thema gleich mal eine Diskussionsgruppe einsetzen, die in den Häusern der Gasse Aushänge macht und Interessenten sammelt; man könnte bei jedem Neubau als Bedingung für eine Baubewilligung einführen, dass mindestens 50% mehr Tiefgaragenplätze geschaffen werden müssen als es Wohnungen im Haus gibt; man könnte so vieles tun. Am Ende erscheint es sogar nicht einmal unmöglich, dass so mancher Baumscheibinger mit einem Parkplatzinger gemeinsam auf Urlaub fährt.

Und auch in der großen Politik könnte man vieles tun. Mit Hausverstand. Mit Verständnis füreinander. Miteinander.

(Ich schreibe so einen Text nie mehr wieder.)