Über Twitter wurde mir von mehreren Piraten vorgeschlagen, dass ich mir doch einmal eine Vorstandssitzung (über ein mir bis dahin unbekanntes Tool namens Mumble) anhören möge bzw. zu einem Stammtisch kommen solle.
Gesagt, getan.
Die Vorstandssitzung -bei der rund 30 Menschen zugehört haben- war in weiten Zügen komisch, witzig, kabarettreif, tragisch und unpackbar zugleich. Eine Partei, die in ihrem Bundesvorstand darüber diskutiert ob z.B. eine Landesorganisation eine Domain um EUR 14,90,- ankaufen darf, hmmm. Naja. Da wird immens viel Zeit vergeudet und den Aussagen einiger Piraten nach „war das eh immer schon so“. Man befetzt sich, die meisten sind nicht vorbereitet, Anträge werden meist vertagt, viele Anträge sind schlecht formuliert oder richten sich an das falsche Organ usw usf.
Auffallend auch eine gewisse Cliquenbildung. Richtiggehende Grabenkämpfe, die meiner Beobachtung nach ohne fundierte, fachärztliche Ausbildung nur schwer verstanden werden können. Aber das ist nun mal so. Wenn man was „Neues“ macht zieht man Querulanten und Idioten magisch an. Und genau das war meine Erwartungshaltung an den Piratenstammtisch am gestrigen Dienstag.
Hab mir gedacht: „Gemma halt Piraten schauen“. In der Erwartung viele Vorurteile bestätigt zu bekommen und eigentlich mit der Erwartungshaltung dort die oben zitierten Querulanten und Idioten in Action zu erleben. Doch was ich dort vorgefunden habe war eher das Gegenteil. Nicht 90% Idioten, sondern maximal 10% Idioten/Wirrköpfe/Querulanten. Einer davon ich 🙂
Rund 100 Piraten bzw. Interessierte anwesend. Grundvernünftige Menschen aus allen Schichten, alle beseelt vom Gedanken „was zu ändern“, „es besser zu machen“, „das System zu besiegen“. Von alt bis jung alles dabei. Auffallend viele (ex)-Grüne und (ex)-Rote.
Wenn man im politischen Betrieb unterwegs ist, dann fällt es einem nicht leicht die Piraten zu verstehen. Bemüht man sich sie zu verstehen, dann wird einem klar, dass sie so programm- und inhaltslos gar nicht mal sind.
Transparenz, direkte Demokratie. „Das alleine wäre eigentlich schon Inhalt genug“. Wir müssen nur begreifen (wollen), dass echte Transparenz und echte Demokratie total mannigfaltige Begleiterscheinungen hätte. Korruption bei voller Transparenz? Nicht unmöglich, aber viel schwieriger. Transparenz bei politischen Entscheidungen? Wo gibt es sowas bei anderen Parteien? Also das ist schon mal ein Anfang.
Darüber hinaus gibt es noch die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen (Grundeinkommen und Erwerbseinkommen on top), Cannabis-Freigabe (dürfte ein Hobby vieler Piraten sein) und ein klares NEIN zum Euro-Schutzschirm. Und die bekannten Positionen zu Urheberrecht, ACTA und Netzpolitik.
Aber zurück zu den Menschen dort im Wratschko. Sie alle wissen, dass es nicht rund läuft. Sie alle wissen, dass die Piraten, so wie sich derzeit aufführen, kaum Chancen haben ein nachhaltiger Faktor in der Politik zu werden. Sie alle wissen, dass es Struktur, Programm und Strategie braucht. Sie tun sich nur schwer das auf die Reihe zu kriegen. Weil sie in vielen Punkten einfach naiv sind. Nicht dumm. Naiv.
Was es so nirgendwo gibt ist der „Mitmachpartei“-Faktor. Wenn man eine Idee hat und diese Idee gut ist wird sie sofort aufgegriffen und umgesetzt. Oder vertagt 🙂 Aber Schranken wie es sie in den Altparteien gibt: Fehlanzeige.
Das Genderthema. Ja, Frauen waren auch dort. Nicht viele, aber doch. Habe versucht mit denen über das Genderthema zu reden, aber da blocken die Frauen ab und sagen: „Hey, ob ein Pirat Mann oder Frau ist, ist uns wurscht!“. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass die Piraten einen Zugang haben der sich von den anderen grundlegend unterscheidet und der vor allem im Konflikt mit den Grünen noch oft Gesprächsthema sein wird.
„Wer der Vorstand ist? Ist doch wurscht. Wir alle sind Piraten und irgendwer kriegt halt die Visitkarten“. Und das leben die wirklich. Natürlich gibts auch Alpha-Männchen, aber am Ende des Tages hätten die bei den Piraten keine Chance. Das Kollektiv weiß um seine Macht.
Beeindruckend war für mich auch die Begegnung mit einigen prekär Beschäftigten. Voller Tatendrang und Fröhlichkeit, nicht ihr eigenes Schicksal bedauernd. „Denen in Griechenland gehts noch schlimmer als uns. Es liegt an uns jetzt das Heft in die Hand zu nehmen“.
Der Umgang miteinander ist lebhaft, man schreit sich schon mal an. Man diskutiert über Details von Satzungen oder Geschäftsordnungen. So mancher Korinthenkacker im ÖVP-Klub würde da nicht mehr durchblicken. Und sie machen es mit einer unglaublichen Leidenschaft. Aber halt oft durcheinander, ohne Struktur und verzetteln sich dadurch.
Auch ungewohnt: Mit Taktierei braucht man ihnen nicht kommen. Soll heissen: Denen würde nie einfallen aus Opportunismus oder auf Befehl einer Zeitung eine Position einzunehmen. Auch anders als bei den meisten.
Es ist ja kein Geheimnis, dass ich die ÖVP gerne in Opposition sehen würde. Wenn die Piraten es irgendwie auf die Reihe kriegen handlungs- und kampagnenfähig zu werden, dann ist ihnen der Einzug in den Nationalrat nicht zu nehmen. Weil sie die einzigen sind die einen wirklich systemüberwindenden Anspruch haben.
Woodstock muss irgendwie so ähnlich gewesen sein. Die Frisuren sind irgendwie geblieben. Der Tiroler Pirat Ofer würde bei diesen Stammtisch-Besuchern gar nicht dazu passen. Das sagen auch (fast) alle.
Die Naivität zieht sich halt noch bei vielen Dingen durch. Ich habe angeregt, dass die Piraten doch eine Aussendung machen sollen mit der sie sich ein für allemal von jedweden rechten Spinnern abgrenzen. „Haben wir eh einmal in einem Interview gesagt“. Keiner von denen hat Sympathien für irgendwelche rassistischen oder nazistischen Typen, darum haben sie das Gefühl, dass man das „eh net extra betonen“ muss.
Sie funktionieren nicht so wie wir es gewohnt sind.
Im besten Fall kriegen sie es auf die Reihe und sind eine Bereicherung und im schlimmsten Fall bringt ihre blosse Existenz die Altparteien dazu sich ein wenig zu ändern. Beides nicht das Schlechteste, oder?
Fazit: Nette Leute, bemüht, voller Idealismus, Herz am richtigen Fleck, Hirnschmalz vorhanden. Downside: Noch kein roter Faden, kein wirklicher Plan, keine erkennbare Strategie, noch nicht handlungsfähig. Betonung auf: noch. Denn all diese Dinge wissen sie selber.
Wie die Piraten sagen würden: „Klarschiff“. Oder so. Ein paar Meuterer über Bord schmeissen und dann Segel setzen. Dann kann das was werden.
Wenn man einen gemütlichen Abend bei Bierchen und politischer Diskussion verbringen will, dann ist der Piratenstammtisch einen Besuch wert.
Danke für den guten Artikel !
„tiefe populistische untergriffe“ – wo denn?
„seine meinung kann sich ja von heute auf morgen jederzeit ändern“ – nur der narr beharrt auf seinem standpunkt, der kluge lässt sich eines besseren belehren.
„das kennt man ja schon von ihm“ – fad
Danke für die differenzierten Eindrücke aus erster Hand. Weiter so!
[…] die wenigen Treffen mit Rudi viel Spass gemacht. Und was er heute über die Piraten bloggt, gibt es entweder hier oder eben unten in den Text gleich reinkopiert (with friendly permission of […]