Es war mein 20. Geburtstag. Wir saßen in unserem Haus. Meine Mutter, meine zwei jüngeren Schwestern und ich. Wir hörten Vaters Lieblingsschallplatte. In unserer kargen Behausung war die Musik für uns die Möglichkeit unserer tristen Gegenwart für einige Momente zu entfliehen. Meine Mutter hatte mir zu meinem Geburtstag ein Bild geschenkt. Das Bild, das mein Vater ständig bei sich getragen hatte. Es war vergilbt, eingefasst in einen hölzernen Rahmen, das Glas war bereits gesprungen. Das Bild zeigt eine Szene aus der französischen Revolution und trägt den Titel „Die Erstürmung der Bastille“. Meine Mutter erzählte mir davon. Erzählte mir davon, dass einst auch in Europa Menschen unterdrückt wurden. Erzählte mir davon, dass sich die Menschen dann gegen ihre Unterdrücker erhoben und mit dem Schlachtruf „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!“ ihre eigene Befreiung erzwangen. „Siehst Du. Und so war Dein Vater. Er wollte auch nicht länger unterdrückt werden. Er ist ein Held und als solchen musst Du ihn in Deinem Herzen für immer aufbewahren.“ Mein Vater wurde vor einigen Jahren festgenommen, weil er es gewagt hatte ein Flugblatt zu verteilen. „Freiheit“ stand darauf und einige Forderungen. Freie Wahlen, Pressefreiheit, Demonstrationsfreiheit, die Gleichstellung von Männern und Frauen, freie Medien und vieles mehr. Es war nachts als sie ihn holten. Zwei Wochen war er weg. Eines Tages stoppte ein Fahrzeug des Militärs in unserer Straße. Meine Mutter öffnete die Türe und zwei Soldaten brachten meinen Vater. Diesen Anblick werde ich nie vergessen. Sie hatten ihn gefoltert, so gut wie jeden Knochen gebrochen, sein Gesicht war zugeschwollen und blutverschmiert; er wimmerte. „Meine Platte, bitte.“ stammelte er als die Soldaten weg waren. Meine Mutter legte seine Lieblingsplatte auf, zog ihn sachte aus und begann seine Wunden zu waschen. „Siehst Du, Frau. Ich lebe nur noch, weil ich ständig in meinem Geist diese wunderbare Musik hörte. Ist sie nicht erhebend? Steht sie nicht für Freiheit? Steht sie nicht für diese Zukunft, die wir uns alle wünschen?“. Man konnte ihn kaum verstehen. Er war sehr schwach. Ich war wütend. Wütend, weil er sich so in Gefahr begeben hatte. Und wütend auf die Soldaten. Am nächsten Morgen war er tot.
Die Geburtstagstorte war ein Stück Kuchen mit einer Kerze darauf. Ich schenkte sie natürlich meinen Schwestern. Plötzlich ohrenbetäubender Lärm. In unmittelbarer Umgebung musste wieder einmal eine Granate eingeschlagen haben. Vor Granaten hatten wir zwar Angst, wirkliche Panik hatten wir aber vor dem Giftgas. Man hörte immer wieder Geschichten, dass die Armee Giftgas einsetzen würde, wenn sie keine andere Möglichkeit sah ein verlorenes Gebiet zurückzugewinnen. In unserer Nachbarschaft waren viele Männer bereits gefallen. Und jetzt hatte mir das Regime auch noch meinen Geburtstag zerstört. Ich wollte raus, um nachzusehen was passiert war. Meine Mutter hielt meinen Arm: „Sohn, warte. In diesem Land gibt es keine Zukunft mehr. Ich kann nicht fliehen, die Mädchen brauchen mich und die beiden sind zu klein für diese Flucht. Aber Du kannst weg!“ – „Weg, wohin? Ich kann Euch doch nicht im Stich lassen?“, antwortete ich. „Nach Europa. Dort gibt es all das, was sich Dein Vater für unser Land immer gewünscht hat. Ich habe unser gesamtes Geld genommen und noch etwas von Deinem Onkel bekommen. Damit habe ich einen Mann bezahlt, der Dich nach Europa bringen wird. Heute Nacht wird er Dich holen!“. „Aber ich kann nicht“… – „Du musst, mein Schatz. Für uns, für Deinen Vater.“
Drei Uhr morgens. Eine tagelange Odyssee begann. Fußmärsche, hunderte Kilometer zusammengepfercht in Klein-LKWs. Kontrollen. Bestechung. Ich hatte das Zeitgefühl verloren. Die Stimmung unter uns war merkwürdig. Hoffnung, Angst, Freude, Trauer über die Zurückgebliebenen. „Wenn wir einmal dort sind, dann holen wir die anderen irgendwann nach. Wir werden hart arbeiten und Geld haben.“ Das war die Stimmung.
Plötzlich hielt der LKW. Man hatte uns gesagt, dass es die letzte Etappe sein würde. Ich hatte keine Ahnung in welchem Land wir waren. Ich sah das Meer. Es war schwarz. Der Mond strahlte. Der Geruch. Es roch nach Freiheit. Wir fielen uns in die Arme. Wir weinten vor Glück. Am Strand lag ein Schiff bereit. Hektisches Treiben. Wir waren bei weitem nicht die einzige Gruppe, die an dieser Überfahrt teilnahm. Es waren Hunderte.
Einige waren sich unsicher. „Das geht sich doch nicht aus. Das Schiff ist viel zu klein für so viele Leute. Was ist, wenn etwas passiert?“, rief einer. „Dann bleibst Du eben da“, rief ein anderer lachend. Und wir alle lachten. Zurückbleiben wollte niemand.
„Habt keine Angst. Die Überfahrt dauert nicht lange und das Meer ist ruhig heute Nacht.“, sprach einer der Männer, die wir für die Überfahrt bezahlt hatten. Er war nicht mit an Bord gegangen, es würden uns andere Männer in Europa in Empfang nehmen. Das Schiff war zum Bersten voll. Aber wir zwängten uns zusammen. Jeder von uns machte sich so klein wie es geht, damit alle Platz hatten.
Es ging los. Ich hatte drei Tage auf der Flucht nicht geschlafen. Ich drängte mich in eine Ecke und kaum war das Schiff auf offener See angelangt schlief ich im Stehen ein.
Plötzlich Panik. Schlaftrunken sah ich um mich. Irgendetwas dürfte passiert sein. „Da sind ein paar runtergefallen.“, rief einer. Es fühlte sich an wie eine Welle. Und dann ging alles ganz schnell. Das Schiff konnte die Last nicht mehr tragen und kenterte. Ich hatte irrsinniges Glück nicht unter das Schiff geraten zu sein. Kurz war alles ganz ruhig. Dann Schreie. Schreie nach Hilfe. Einige von uns konnten nicht schwimmen. Ich sah wie sich einige an anderen festklammerten und um ihr Leben rangen. Der eine, weil er nicht schwimmen konnte. Der andere, weil er nicht vom anderen mit in die Tiefe gerissen werden wollte. Ich hatte von meinem Vater schwimmen gelernt. Instinktiv dachte ich mir: Du musst mit Deinen Kräften sparsam umgehen, ganz ruhig bleiben, man wird uns retten. Europa muss schon sehr nah gewesen sein. Zwei Stunden lang passierte einmal gar nichts. Ich hatte keine Probleme mich über Wasser zu halten, das Wasser war nicht wirklich kalt. Mein ganzes Gewand habe ich ausgezogen, nur das Bild von der Bastille hatte ich noch bei mir. Ich hatte es mir in die Unterhose gesteckt. Nasse Hosen und Schuhe kosten nämlich viel mehr Kraft. Dann hörte ich etwas. Ich sah ein Schiff. Oder irrte ich mich? Doch, es musste ein Schiff sein. Die Hilfe-Schreie kamen wieder auf. Ich dachte mir: das gibt es doch nicht, dass uns die nicht hören. Das Schiff schien zu halten. Es kam nicht näher, sondern blieb einfach liegen. „HILFE VERDAMMT!“ Die Schreie wurden lauter. Ich sah einen Lichtkegel. Ein paar hundert Meter entfernt. Ich habe aufgehört zu schreien, da ich wusste, dass mich das nur unnötig Kraft kosten würde. Vielleicht hörte uns dieses Schiff nicht, aber sobald die ihre Fahrt fortsetzen würden, mussten sie ja zwangsläufig in unsere Richtung. Stunden vergingen. Oder waren es Minuten? Man verliert sein Zeitgefühl, wenn man um sein Leben kämpft. Ich spürte Panik in mir aufkommen. „Was, wenn die uns nicht retten würden?“ schoss mir durch den Kopf. Ich schob den Gedanken wieder weg. Warum sollte man uns nicht helfen, dafür gibt es ja keinen vernünftigen Grund. Das Schiff war nicht mehr zu sehen.
Ein Stich. Ich spürte, das ich wohl einen Krampf im Bein bekommen würde. Jetzt hatte ich echte Angst. Mehr Angst als bei den Granateneinschlägen zuhause. Mehr Angst als jemals in meinem Leben zuvor. Ich musste mich beruhigen. Ich dachte an meinen Vater. Der Krampf wurde stärker, aber ich versuchte mich ruhig an der Oberfläche zu halten. Ich dachte an seine Lieblingsschallplatte. Mein Kopf war zwischendurch schon ein paar Mal unter Wasser und mit letzter Kraft gelang es mir noch einmal nach oben zu kommen. Ich hatte Höllenschmerzen. Diese Schallplatte war mein Lichtblick. Ich begann sein Lieblingsstück zu summen. Es wurde Blubbern daraus, jedes Mal wenn mein Kopf wieder kurzzeitig unter Wasser kam. Und wieder kämpfte ich mich hinauf. Und ich summte diese wunderbare Musik weiter. Unerlässlich. Immer lauter und lauter. Ich weinte dabei. Diese Musik sollte mir den Tod erträglich machen. Immer lauter und lauter summte ich Vaters Lieblingsstück. Dann sank ich. Und bis zum letzten Atemzug hatte ich seine Musik in meinem Herzen. Sie gab mir Hoffnung und nahm mir die Angst. Das Stück heißt übrigens: „Freude schöner Götterfunken“. Es ist die Hymne Europas.
Wien, 12.12.2013, Fiktive Geschichte