Christoph Chorherr liefert mit „Volksabstimmung, nein danke!“ im Online-Standard einen lesenswerten Beitrag zur aktuellen Debatte rund um die  Aufwertung direktdemokratischer Instrumente bzw. zu einer Reform des Wahlrechts.

Er kritisiert die „grünen Kritiker des Bundespräsidenten in der aktuellen Plebiszitdebatte“. Was den Status quo betrifft schreibt er:

Bei der Diagnose des Status quo müssen wir uns nicht lange aufhalten. Hier herrscht (trauriger) Konsens. So wie unsere repräsentative Demokratie derzeit verfasst ist, kann sie die wesentlichen Aufgaben kaum lösen. Bildungsreform? Unifinanzierung? Kompetenzbereinigung zwischen Bund und Ländern? Raumordnung? Klimaschutz? Die Liste der Stagnation lässt sich beliebig fortsetzen.

 

Eh klar. Aber: Eine -meiner Meinung nach- sehr bedeutende Ebene lässt Chorherr bei der Befundung des Ist-Zustandes aus: das Verhältnis der BürgerInnen zu den politischen Eliten, das rapide sinkende Ansehen der Politik, das schwindende Vertrauen in die politischen Institutionen, eine alarmierend niedrige Wahlbeteiligung, das steigende Desinteresse an Politik an sich. 57% der ÖsterreicherInnen glauben einer Umfrage nach nicht mehr an die Reformierbarkeit des politischen Systems, 85% sagen gar „alle“ Politiker seien mehr oder weniger korrupt. Es ist also nicht nur die Stagnation, die uns in diese veritable Demokratiekrise geführt hat, sondern vielmehr das Versagen der politischen Klasse.

Nun stellt Chorherr eine wichtige Frage:

Aber ist die repräsentative Demokratie, der Parlamentarismus per se die Ursache der Stagnation, und muss deswegen durch Volksabstimmungen ergänzt werden?

Und in dieser Fragestellung liegt ein Problem: die aktuelle Debatte hat ihre Ursache nicht in der inhaltlichen Stagnation, dies anzunehmen wäre ein Fehler. Nein, sie hat die Ursache in der zunehmenden Abwendung der BürgerInnen von der Politik. Und: durch neue Medien und die neuen Möglichkeiten des Internets, gepaart mit -dem bei den Jungen- zurückgehenden Autoritätsglauben (wird auch Zeit, dass wir die Habsburger endlich hinter uns lassen), entsteht der Wunsch nach mehr Partizipation, nach mehr Mitbestimmung. Das ist per se etwas sehr, sehr Gutes. Es entsteht eine kritische Masse an Hinterfragenden, nicht alles diskussionslos Hinnehmenden. Das muss man toll finden.

Die inhaltliche Stagnation ist in der Tat keine Folge der repräsentativen Demokratie. Für die Stagnation gibt es viele Gründe: verkrustete, auf Machterhalt fokussierte Parteien; Parteien, die es nicht schaffen sich den neuen Lebensrealitäten anzupassen; Parteien, die sich nicht mehr ihren Werten oder gar dem Gemeinwohl verpflichtet sehen, sondern vielmehr der Absicherung der eigenen Einflussbereiche und der Versorgung der eigenen Klientel; Parteien, die lieber verwalten als zu gestalten und den Mut Unpopuläres zu tun nicht aufbringen; und viele Gründe mehr.

Chorherr sagt:  dass es in Österreich keinen lebendigen Parlamentarismus gäbe (wo er recht hat); dass im Parlament von der jeweiligen Regierungsmehrheit das durchgewinkt wird, was die Regierung ins Parlament einbringt (wo er recht hat); dass die Ursache darin liege, dass Abgeordnete, um wieder aufgestellt zu werden, stets in Parteitreue agieren würden (wo er recht hat). Also: dass, das in der Verfassung festgeschrieben freie Mandat real nicht existiert, weil die Abgeordneten nicht ihrem Gewissen folgen, sondern der Abstimmungsvorgabe der jeweiligen Klubführung (wo er recht hat).

Als Lösung bietet Chorherr eine Stärkung des Persönlichkeitswahlrechtes an, damit Abgeordnete mehr ihren Wählern und nicht ihren (Landes-)Parteien verpflichtet sind:

Deshalb führt kein Weg daran vorbei, Abgeordnete möglichst unmittelbar ihrer Wählerschaft zu verpflichten. Das heißt nicht Mehrheitswahlrecht. Ein flexibles Vorzugsstimmensystem, wo die wahre Basis jeder Partei, die Wählerschaft, die Kandidaten auswählt, würde unmittelbar und wirksam den Parlamentarismus wachküssen und die Stagnation überwinden.

 

Klingt toll, oder? Nur im Realitätscheck tauchen dazu einige Fragen und Anmerkungen auf:

  • Damit man als Kandidat auf eine Liste kommt, braucht es noch immer eine Partei, die einen dafür nominiert: unbequeme Kandidaten schaffen es auch so nicht auf eine Liste
  • Es würde keine Gleichheit geben, denn bei -Hausnummer- 50 Kandidaten auf einer Wahlliste wären die, sagen wir einmal, 10 Erstgereihten noch immer deutlich bevorzugt. Wahrscheinlich würde nicht einmal eine alphabetische Reihung etwas bringen
  • Was hindert Parteien -auch die Grünen!- schon jetzt daran, dies parteiintern so zu handhaben? (Ich erinne im übrigen an die Fälle Karas und Van der Bellen).
  • Kandidaten, die über finanzielle Ressourcen verfügen, sind gegenüber Kandidaten, die nichts außer sich selbst anzubieten haben, klar im Vorteil.
  • Eine Partei würde auch weiterhin im Wahlkreis EINEN oder maximal 2 KandidatInnen pushen, 50 um Vorzugsstimmen kämpfende PolitikerInnen auf einem Wahlplakat wäre wohl ein kaum gangbarer Weg.

Als zweiten Einwand liefert Chorherr:

„Es ist ein fundamentaler Fehler, direkte Demokratie mit plebiszitärer Demokratie gleichzusetzen.“

Er verweist auf den Verfassungsschreiber Kelsen, der von der „Heteronomie des Willens“ geschrieben hat.

Darin spricht er von der „Heteronomie des Willens“. Gemeint ist damit, dass in einer Demokratie immer Aushandelsprozesse zwischen verschiedenen Standpunkten letztlich zu Entscheidungen führen. Demokratie lässt sich in den wenigsten Fällen auf schlichte Ja/Nein-Fragen reduzieren. Sehr viele sehr unterschiedliche Standpunkte müssen in einem Prozess der öffentlichen Aushandlung abgewogen werden. Es ist völlig klar, dass nur so Minderheitspositionen einbezogen werden können.

 

Was uns zur Frage bringt: Ist das wirklich so? Werden im derzeitigen politischen System Minderheitspositionen einbezogen? Hier irrt Chorherr. Wenn es so wäre, wie kann es sein, dass EPU’s, 1 Mio von Armut bedrohte MitbürgerInnen, Homosexuelle, Migranten, AlleinerzieherInnen, MindestpensionistInnen und viele Minderheiten mehr kaum Gehör finden. Wie kommt es, dass deren Positionen, Sorgen und Anliegen kaum Niederschlag finden? Und ich sage: Es ist sogar noch weit schlimmer! Es werden nicht nur Minderheitspositionen NICHT einbezogen, das derzeitige politische System ignoriert beharrlichst sogar Mehrheitspositionen. Mehrheit der BürgerInnen für Vermögenssteuern, Mehrheit der BürgerInnen für Steuergerechtigkeit, Mehrheit der BürgerInnen für bessere Bildung, Mehrheit der Bevölkerung für eine Zurückdrängen des Parteienfilzes, Mehrheit der Bevölkerung für mehr Transparenz, strengere Korruptionsgesetze, und viele, viele Dinge mehr.

Die repräsentative Demokratie ist die perfekte Spielwiese für Lobbyisten geworden. Es ist nun mal viel einfacher sich eine Parlamentsmehrheit zu kaufen, als die Mehrheit der BürgerInnen bzw der öffentlichen Meinung. Die veröffentlichte Meinung kann man sich immer kaufen, in Österreich sogar noch viel leichter als in den meisten anderen europäischen Staaten. Aber: in Österreich und auch EU-Ebene werden Gesetze in der Regel von Lobbyisten geschrieben, die  -mit massiven finanziellen Mitteln ausgestattet- lediglich dem Auftraggeber und nicht dem Gemeinwohl verpflichtet sind.

Wenn wir als WählerInnen klug genug sind Parteien zu wählen, warum sollen wir eigentlich zu blöd sein für direktdemokratische Instrumente?

Wenn wir als SteuerzahlerInnen den ganzen Betrieb schon finanzieren, warum sollen wir nicht entscheiden was mit unserem Steuergeld passiert?

„Das ist ja keine Frage, sich für eine Volksabstimmung eignet“. Hört man oft. Ein Schweizer Abgeordneter, den ich vor 2 Wochen bei Puls4 getroffen habe, war bass erstaunt: Er hat überhaupt nicht verstehen können, WIE man zu so einer Meinung kommen kann. Das Volk ist der Souverän und entscheidet. Punkt.

„Wie sollen Leute über etwas abstimmen, wenn sie keine Ahnung davon haben.“ Hört man oft. Wieder schüttelte der Schweizer den Kopf. In der Schweiz bekommt man bei jeder Abstimmung ein sogenanntes Abstimmungsbuch. Jede und jeder. In diesem Abstimmungsbuch können Befürworter und Gegner ihre Argumente niederschreiben und somit verfügt die Bevölkerung über eine solide und ausreichende Grundlage um zu entscheiden.

Wie läuft es denn bei uns im Parlament? Die Mehrheit der Parlamentarier liest doch die Gesetze gar nicht. Das machen Bereichssprecher bzw. Fachreferenten und die geben dann ihre Empfehlungen ab. Aus dieser erwächst dann die Parteiposition. Als regelmässiger Beobachter von Parlamentsdebatten weiß man, dass die intellektuellen Fähgikeiten der Abgeordneten so ziemlich jenen der Durchschnittsbevölkerung entsprechen. Es gibt ein paar Kluge, ein paar Bemühte und die Mehrheit (Hinterbänkler, die zweimal im Jahr einen 3 Minuten-Beitrag zu Würstl-Themen runterlesen) ist nicht dümmer oder klüger als Otto Normalverbraucher.

„Politik muss von Profis gemacht werden“. Hört man auch oft. Wohin uns die sogenannten Profis geführt haben? Naja, wir sind de facto Pleite. Haben einen Reformstau gigantischen Ausmaßes. Die Demokratie ist in einer schweren Krise. Polemisch: Sorry, aber das hätten Amateure nicht viel schlechter machen können, oder?

Man kann aber trotzdem nicht vorbehaltlos für direktdemokratische Instrumente sein, ohne eines dazuzusagen: Grundlage für die Schaffung von direktdemokratischen Instrumenten ist aus meiner Sicht:  INFORMATION. Und dann kann man uns ruhig abstimmen lassen.

Grundsätzlich stehen wir aber trotzdem vor dem Problem, dass sich zuallererst die Parteien selbst ändern müssen. Dies trifft im Prinzip alle, aber natürlich im speziellen auf SPÖ und ÖVP zu. Da diese aber ausschließlich machtpolitisch agieren, werden sie sich freiwillig kaum ändern. Und wenn dann nur aus opportunistischen Überlegungen. Man muss ihnen daher Macht nehmen. Damit sie wissen, dass es so nicht weitergehen kann.

Volksabstimmungen könnten aus meiner Sicht ein gangbarer und guter Weg sein um die bestehenden Blockaden aufzulösen. Man stelle sich nur vor, dass es beispielsweise Volksabstimmungen zu folgenden Themen geben würde:

  • Einheitliches Pensionssystem
  • Abschaffung der Bundesländer
  • Einführung Gesamtschule
  • Abschaffung der Pflichtmitgliedschaften in den Kammern
  • Parteien raus aus dem ORF
  • Freie Nutzung des öffentlichen Verkehrs
  • Kürzung der Parteienförderung
  • Strengstes Korruptionsgesetz der Welt
  • Volle Transparenz bei öffentlichen Vergaben
  • Einführung Börsenumsatzssteuer
  • Verpflichtende Frauenquoten in der Privatwirtschaft
  • Erbschafts- und Schenkungssteuer
  • Spekulationsverbot für Gemeinden, Länder und Bund

Dies würde Österreich in seinen Grundfesten erschüttern. Nein. Nicht Österreich. Lediglich die Herrschenden. Und das fände ich persönlich großartig.

Mein Schlussappell:

Liebe PolitikerInnen: Macht endlich Euren Job und werdet Eurer Verantwortung gerecht. Erklärt was ihr tut und warum ihr es tut! Und: Habt doch keine Angst vor den Menschen, die Euch wählen. Angst fressen Seele auf. Und wie seelenlose Politik aussieht wissen wir. Das ist nämlich auch der Status quo.