Große Aufregung herrscht rund um die sogenannte „Fibel“ der ÖVP. Auf 61 Seiten erklärt ÖVP-Generalsekretär seinen Funktionären was Rot-Grün aus seiner Sicht für das Land bedeuten würde und malt dabei so manch überzeichnetes Bild. Die Medien machen sich über Slogans wie „Rot-Grün heißt Guantanom-Flüchtlinge in Österreich“ oder „Rot-Grün heißt Asylmissbrauch“ lustig und in der Twitteria wird heiter geraten, welche anderen Claims man nun noch erwarten könne. Zugegeben- auf den ersten Blick denkt man sich: Das könnte in Teilen von der FPÖ sein. Das klingt nach Kickl und nicht nach Rauch. Vor allem kann man sich aber fragen: Was ist der Sinn dahinter? Welchen Plan verfolgt die ÖVP? Das versuche ich unter Ausblendung meiner persönlichen politischen Meinung (die der geneigte Leser ohnehin kennt) zu ergründen.
Nach intensivem Studium der Fibel komme ich zu folgenden Schlüssen:
Ausgangslage
Die ÖVP ist in der Defensive, wie kaum jemals zuvor. Untersuchungsausschuss, Grasser, Strasser, Mensdorff, Rauch-Kallat, Amon, Hakl sind allesamt Damoklesschwerter, die jederzeit das Herz der ÖVP vernichtend treffen könnten. Auch wenn die ÖVP noch immer in Fragen der Wirtschaftskompetenz bessere Werte als die Sozialdemokratie zugeschrieben bekommt, hat die Finanzkrise doch einiges -wie ich meine:nachhaltig!- verändert. Auch ÖVP-Wähler sind mehrheitlich der Meinung, dass im Verhältnis Finanz- zu Realwirtschaft etwas nicht stimmen könne. Wäre man nun Generalsekretär der Partei und müsste sich überlegen welches Thema kampagnenfähig wäre bzw. wofür die ÖVP im Jahr 2012 steht, was würde einem einfallen? Mir fällt nichts ein. Ja, ok. In Wien: Parkpickerl. Aber ansonsten hat es die ÖVP geschafft in der öffentlichen Wahrnehmung für kaum etwas zu stehen, das man positiv kampagnisieren könnte.
Lösung
Wenn man selbt kein Thema hat, das man für eine Positiv-Kampagne verwenden kann, was macht man dann? Keine Kampagne? Oder man schafft eine Situation in der die Partei zusammenrückt. Und dies gelingt am einfachsten durch die Schaffung eines Außenfeindes. Dieser Außenfeind heißt Rot-Grün. Ein Außenfeund Faymann bzw. die SPÖ wäre an sich näher liegend, aber man ist ja in einer Koalition. Man sagt also: Die ÖVP ist der bessere Koalitionspartner der SPÖ. Oder man kann auch herauslesen: Rot-Grün ist im Vergleich zu Schwarz-Blau viel schlimmer. Aus rein fachlicher Sicht ist die Schaffun eines Außenfeindes in einer derartigen Defensivposition ein durchaus probates und legitimes Mittel.
Zielgruppe
Die Fibel wird an ein paar hundert Funktionäre verschickt. Man setzt ein Zeichen, dass man lebt, kampfbereit ist und dass man den Leuten nun sagen müsse, was die Alternative zu dieser Regierung oder einer etwaigen schwarz-blauen Neuauflage bedeuten würde. Und das wird schön anschaulich dargestellt. Plakativ, mit Auszügen aus Parteiprogrammen, Presseartikeln, Zitaten und vieles mehr. Wir erinnern uns an die „Werte aus Österreich“-Kurzkampagne, die mit Spindelegger Rede zur Nation eingeleitet wurde. Auch hier war die Zielgruppe klar definiert: die Funktionäre der ÖVP. Eines gibt man dieser Zielgruppe im Subtext natürlich auch gleich zu verstehen: Wenn Rot-Grün kommt, dann haben wir weniger zu reden, weniger zu verteilen und DU wirst eventuell auch Dein Mandat, Deinen Posten oder was auch immer verlieren. Das mobilisiert. Nichts ist uns näher als das eigene Hemd.
Hauptbotschaften
Rauch macht gar kein Geheimns aus seiner Strategie. Bereits im Vorwort erfährt man mit welchen Themen die ÖVP 2013 in die Wahlauseinandersetzung gehen wird:
Es gibt in unserem Land eine rotgrüne
Achse, die – ausgehend von
Wien – hinter den Kulissen zunehmend
Gestalt annimmt. Wir sehen diese
Entwicklung auch bei der täglichen
politischen Auseinandersetzung, wenn
sich etwa bei der Eigentumssteuer, dem Angriff
auf die Familien, der illusorischen Arbeitszeitverkürzung
oder der Abschaffung der Wehrpflicht
rot-grüne Mehrheiten bilden. Damit ist klar: Die rot-grüne
Abkassiererei und Drüberfahrer-Mentalität, wie wir sie
in Wien z.B. bei der Verhinderung von Volksbefragungen
kennen, kann in unserem ganzen Land zur bedrohlichen
Wirklichkeit werden.
Das Setting der Themen ist aus meiner Sicht als durchaus gelungen und stimmig zu bewerten:
- Auf die „Vermögenssteuer“-Rufe wird mit der Abwehr der Eigentumssteuer geantwortet. Das kann funktionieren. Obwohl es eine Mehrheit in diesem Land gibt, die eine höhere Besteuerung von Vermögen ab 1 Mio EUR befürwortet: beim Eigentum hört sich für Herrn und Frau Österreicher der Spaß auf.
- „Angriff auf die Familien“- Hier wird klar, dass die ÖVP einen deutlich wertkonservativeren Kurs fahren wird als bisher. Es ist ein Schritt rückwärts und gemessen etwa an den Positionen der einstigen Perspektivengruppe ein klarer Rückschritt. Das Thema wird aber nicht wahlentscheidend sein und das Risiko ist gering, dass man durch eine wertkonservativere Haltung Wähler vergrault. Im Klartext: wer ein modernes, progressives Familienbild hat, hat wohl bisher auch nicht zu den Jubelpersern der ÖVP gehört.
- „Illusorische Arbeitszeitverkürzung“ -Wie kann man nur gegen weniger Arbeit sein? Nun, wie kann gegen mehr Urlaub sein? In der Schweiz hat sich das Volk deutlich gegen mehr Urlaub ausgesprochen und in Österreich ist eine „Wie soll sich das ausgehen, weniger arbeiten bei gleichem Lohn? Oder willst noch weniger verdienen?“-Frage einfach mit „Wie stellen die sich das denn vor?“ zu beantworten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Positionierung -nicht umsonst „ILLUSORISCH“ betitel- die nicht umsetzbaren Wünsche von Rot-Grün aus Sicht der ÖVP deutlich machen soll. Vorteil für die ÖVP: In der Bevölkerung kennt sich so gut wie niemand mit dem Thema „Arbeitszeitverkürzung“ aus und kaum jemand kennt die (persönliche Anmerkung: guten) Gründe diese zu fordern.
- „Abschaffung der Wehrpflicht“ – Klare Position gegen den unbeliebtesten Minister der Bundesregierung, Norbert Darabos. Diese Position wirkt aber nur mobilisierend, wenn die SPÖ mit der klaren Forderung „pro Berufsheer“ in den Wahlkampf geht. Das werden sich Faymann und Co. gut überlegen (müssen).
- „Drüberfahrer-Mentalität“ – „Verhinderung von Volksbefragungen“ – Die ÖVP hat -wenn es um mehr direkte Demokratie geht- im Moment das klarste Konzept und mit Sebastian Kurz den Shooting-Star der Regierung als Kommnuikator dieser Konzeptes. Die unglückliche Vorgangsweise bei der Einführung des Parkpickerls in Wien ist Vergleich mit einem aufgelegten Elfmeter. Die Wortmeldungen von Fischer, Cap, Wittmann und Co. spielen der ÖVP in diesem Punkt deutlich in die Hände. Ob der Wähler dies honorieren wird ist offen, das Thema an sich ist aber exzellent gesetzt.
Stadt vs. Land
Nachdem Wahlen in Zeiten sinkender Wahlbeteiligung hauptsächlich über den Faktor „Mobilisierung“ gewonnen werden, hat sich die ÖVP scheinbar entschieden den Fokus auf den ländlichen Raum zu setzen. Ohne Städte wird man nicht Kanzler. Das wissen Spindelegger und Rauch. Daher ist es völlig klar, dass es primär darum gehen soll sich die eigenen Bastionen nicht wegnehmen zu lassen und den ländlichen Raum zu verteidigen. Man kann auch flapsig sagen: Man gibt die Städte auf und akzeptiert, dass das Rennen um Platz 1 nicht zwischen SPÖ und ÖVP oder ÖVP und FPÖ entschieden werden wird. Nicht ungeschickt daher ist das Wording „von Wien ausgehend“. Rot-Grün als Gefahr die vom „Wasserkopf“ Wien ausgeht. Dieses Bild lässt sich wunderbar kommunizieren und ist wohl kein Zufall.
Mehrheiten, die es nicht gibt
Bemerkenswert ist, dass der Angriff auf Rot-Grün bzw. eine etwaige rot-grüne Koalition ein Angriff auf einen nicht existenten Gegner ist. Natürlich wollen große Teile von SPÖ und Grünen Rot-Grün. Aber es gibt niemanden, der -aus heutiger Sicht- eine rot-grüne Mehrheit prognostizieren würde. Rot-Grün kommt nur dann, wenn ÖVP, FPÖ, BZÖ, Piraten und Stronach unter 45% fallen würden. Selbst wenn die ÖVP auf 20% fallen würde, eine FPÖ unter 23-25% ist ein Wunschtraum und den Rest kann man beliebig auf den Rest aufteilen. Rot-grüne Strategen wünschen sich, dass Piraten, Stronach und BZÖ alle knapp an der 4%-Hürde scheitern. Träumen dürfen die Herren und Frauen Strategen eh. Nur mit Tagträumen sollte man vorsichtig sein.
Lagerwahlkampf?
Die Wordings in der Fibel sind teilweise FPÖ-like. Als Hintergedanke kann durchaus vermutet werden, dass man WählerInnen gewinnen will, die zwar die Werte der FPÖ teilen, aber die vielen Korruptionsgeschichten und moralische Verfehlungen a la Graf nicht unterstützen wollen. Einen Lagerwahlkampf wie in Deutschland wird es nicht geben. Vor allem weil die SPÖ im Unterschied zur SPD nicht den Mut hat eine klare Aussage zu treffen. Die Grünen werden sich aus meiner Sicht klar für Rot-Grün ins Zeug werfen, aber nicht nur aus Überzeugung, sondern viel mehr aus taktischen Überlegungen: So unrealistisch Rot-Grün ist: Schwarz-Grün hat eine Wahrscheinlichkeit, die geringer ist als der von den Maya prognostizierte Weltuntergang am 21.12.2012. Wir werden daher keinen Lagerwahlkampf sehen.
Schwarz-Blau? Blau-Schwarz?
Aus heutiger Sicht ist eine schwarz-blaue Koalition nicht realistisch. Die ÖVP würde aus Revanchismus sofort Schwarz-Blau machen, aber dazu müste man vor der FPÖ landen. Sehr unwahrscheinlich. Die Fibel und die Positionierung in Richtung Wertkonservativismus, „Asylmissbrauch“-Warnung sind als Versuch zu werten der FPÖ Wähler abspenstig zu machen und so doch noch eine schwarz-blaue Koalition zu ermöglichen. Doch wie soll das gehen? Strache als Vizekanzler? Nein. Man würde wohl Norbert Hofer als Vizekanzler sehen. Aber: Ähnlich wie bei Haider und Riess-Passer wäre die Gefahr von Heckenschützen-Attacken wohl eine ziemlich große Bedrohung.
Blau-Schwarz kann man aus meiner Sicht abhaken. Die FPÖ würde niemals den Fehler Haiders wiederholen, den Kanzler der drittstärksten Partei zu überlassen. Und die ÖVP würde es im Falle einer Juniorpartnerschaft mit der FPÖ wohl in ihre Einzelteile sprich Bünde zerlegen. Und da wären noch inhaltliche Fragen: ESM, Fiskalpakt, Haltung zur Bankenunion etc. Das geht sich nicht aus.
Conclusio
- Die ÖVP will die Reihen schließen. Dies kann durch Schaffung eines Außenfeindes gelingen. Außenfeind verdeckt inhaltliche Defensivposition.
- Die ÖVP hat das Rennen um Platz 1 aufgegeben und konzentriert sich auf die Mobilisierung ihrer Kernschichten im ländlichen Raum
- Doppelstrategie: ÖVP versucht durch Schwächung der FPÖ schwarz-blaue Mehrheit zu erreichen / ÖVP versucht die 25%-Marke zu erreichen, um Rot-Schwarz fortzusetzen
- Derzeitiges Führungsteam für Rot-Schwarz-Grün nicht zu haben- lieber Opposition als mit Rot-Grün in eine Regierung
- Keine Absage an Rot-Schwarz: Faymann dankbarer Koalitionspartner, der gerne Kanzler ist und inhaltlich den Schwarzen mehr überlässt, als ihnen kräftemäßig zustehen würde
Der Wahlkampf ist eröffnet.
Gut getroffen!
[…] Weiterführende Links: Die “Fibel” in ihrer Vollständigkeit sowie eine weitere detailierte Analyse von Rudi Fußi. […]
Sehr interessant, was Sie da schreiben. Ich habe wohl von dieser ÖVP-Broschüre gehört, aber mich nicht um deren Inhalt gekümmert. So bin ich froh, dass ich Ihre knappe Analyse lesen konnte. Schon länger interessiere ich mich für die Frage, wie man die Miseren der „hohen“ Politik lösen könnte. Es ist wirklich schwer.
Viele Grüße
Sylvia Blaser
Ich verstehe nicht, wie so viele auf diesen Schmäh hineinfallen können.
Ich verstehe noch die Selbstbewunderer, die glauben zur oberen Mittelschicht zu gehören, wenn sie 50.000€ – 500.000€ oder 2 Eigentumsliegenschaften besitzen, dass sie die ÖVP wählen. Allerdings wählen auch alleinerziehender Mütter mit Scheißjob, ausgebeutete Angestellte mit Nettogehalt 50h Woche und 2 Wochen Urlaub im Jahr und sonstige die ÖVP. und da muß ich mir immer die Frage stellen, was sind hier die Ursachen?
Bei allen anderen Parteien würde ich es verstehen, obwohl ich FPÖ und BZÖ genau wenig mag und die SPÖ ist absolut eine Profillose Pensionistenpartei und
Grüne und Piraten setzten viele mit feministisch – chaotisch gleich.
Trotzdem wundert es mich!
Nein eigentlich ist das gutes Kalkül, die ÖVP Taktik ;(
Pensionistenpartei war bisher die SPÖ, die PensionistInnen sind eine sehr bedeutende Wählerschicht, durch ihre große Masse. Wie kann man den Pensionisten manipulieren? Mit ANGST, da er meistens ANGST vor dem Tode mehr als jede andere Wählergruppe hat.
Außerdem werden andere ängstliche auch als Wähler lukriert und die gibt es doch oft.
So macht das die ÖVP, wieder mal Schüssel geschickt.
Solange die Probleme der Republik weiter so dahingetragen werden, ist es vollkommen egal, welche Regierung wir haben. Ich bezweifle, dass die SPÖ eine Erbschaft- uns Schenkungssteuer durchbringt.
Habe aber ein nettes Quick & Dirty Kunstwerk gemacht!
Titel: unsere Kinder sind unsere Zukunft? Oder doch nur eine weitere bad bank!
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